Was Schuldgefühle bedeuten und welche Ursachen sie haben können

Alle | 28. Februar 2023

Schuldgefühle: Eine Definition

Bei Schuldgefühlen handelt es sich um komplexe Emotionen, die üblicherweise in Beziehungen mit Menschen auftreten, auf deren Liebe und Anerkennung wir Wert legen. Verbunden sind Schuldgefühle oft mit Angst, Scham, Ärger, Gewissensbissen und der Sorge, dem Mitmenschen geschadet zu haben und dessen Anerkennung zu verlieren. Körperlich können Schuldgefühle ein Gefühl der Schwere verursachen. Die Fähigkeit, Schuldgefühle zu empfinden, ist grundsätzlich ein Zeichen psychischer Gesundheit, denn sie haben wichtige Funktionen. Wir verinnerlichen und beachten Regeln von Gruppen, zu denen wir gehören, in denen wir Anerkennung und soziale Sicherheit anstreben. Der Wunsch Schuldgefühle zu vermeiden motiviert zum freiwilligen Befolgen dieser (sozialen und moralischen) Spielregeln, sie tragen zum Erhalt von Kontakt und Gemeinschaft bei, vermitteln ein verträgliches soziales Zusammenleben. Zu lange bestehende, unrealistische oder zu intensive Schuldgefühle bergen jedoch das Risiko psychischer Erkrankungen (bspw. depressive Störungen).

Gemäß psychoanalytischer Lehre handelt es sich bei Schuldgefühlen um eine Spannung zwischen Ich und Über-Ich. Das Über-Ich steht für die innere moralische Instanz: Regeln, Gebote und Verbote, die wir uns selbst auferlegen. Üblicherweise sind es Gebote und Werte unserer Eltern bzw. früher Bezugspersonen, die wir im Laufe der kindlichen Entwicklung im Sinne einer Identifikation mit deren Vorstellungen verinnerlichen. 

Mathias Hirsch, Psychoanalytiker und Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, benennt folgende Kategorien von Schuldgefühlen:


Traumatisches Schuldgefühl

Neben den im Rahmen einer gesunden Entwicklung erfolgenden Identifikationen mit elterlichen Geboten oder anderen wünschenswerten Beziehungsqualitäten können im Rahmen traumatischer Beziehungserfahrungen Schuldgefühle entstehen ("traumatische Schuldgefühle"), die letztlich der realen Schuld des Täters entsprechen und die lange anhalten oder besonders intensiv in Erscheinung treten können. Opfer jeder Form von Gewalt entwickeln Schuldgefühle: Täteraggressionen und die Schuld daran werden in selbstschädigender Weise von den Opfern sich selbst zugeschrieben - am ehesten aus dem unbewussten Wunsch heraus, eine positive Repräsentanz, d.h. ein positives inneres Bild der Bezugsperson aufrecht zu erhalten. 

Weiterhin können Schuldgefühle durch die unbewusste Übernahme von Schuldgefühlen oder auch realer Schuld anderer, beispielsweise der Eltern- oder Großelterngeneration entstehen (ähnlich wie Traumafolgen transgenerational weitergegeben werden können).


Basisschuldgefühl

Neben traumatischen Schuldgefühlen gibt es Schuldgefühle aufgrund der bloßen eigenen Existenz ("Basisschuldgefühle"). Kinder, die oft vernachlässigt, kritisiert, zurückgewiesen oder gar missbraucht werden, entwickeln das Gefühl, es stimme grundsätzlich etwas nicht mit ihnen. Manchmal geben offene Mitteilungen, unerwünscht zu sein, noch eindeutigere Hinweise auf diese Ursache von Schuldgefühlen: "So sprichst du mit mir, nach allem was ich für dich getan und erlitten habe? Deinetwegen musste ich meine Karriere aufgeben" usw. Basisschuldgefühle können zudem beobachtet werden bei Menschen, die nach Abtreibungsversuchen zur Welt gekommen sind, bei Adoptivkindern, Parentifizierung / Rollenumkehr (Übernahme von Elternfunktionen durch das Kind) und wenn Eltern (bewusst oder unbewusst) mit dem Geschlecht des Kindes hadern.


Schuldgefühl Infolge des Bedürfnisses, vital und selbstbestimmt zu leben

Wenn gesundes Autonomiebestreben, d.h. der Wunsch nach Unabhängigkeit, Freiheit und somit auch Getrenntsein oder Loslösen von anderen in der kindlichen Entwicklung oder bei Jugendlichen behindert wird, können Schuldgefühle entstehen. Gestört ist dann das Gleichgewicht zwischen Selbstbehauptung und Rücksicht auf andere. Entwicklung einer eigenen Identität, Verselbständigung, Neugier, Lebendigkeit, selbstbestimmtes und selbstbewusstes Leben, Erfolge: Alle diese Aspekte einer gesunden Entwicklung können auch Schuldgefühle auslösen, wenn beispielsweise das Gefühl vorherrscht, dass andere zurückgesetzt werden oder dass man anderen etwas wegnimmt. Wichtige Prüfungen können vorweg von Prüfungsängsten begleitet sein oder nach Bestehen von Depressionen gefolgt werden. Möglicherweise bleiben manche Menschen erfolglos, weil sie strafende Anteile der neidischen, unzufriedenen Eltern verinnerlicht haben und ein Übertrumpfen oder Übervorteilen von Eltern (oder auch Geschwistern) unbewusst vermeiden. Kinder, die mit chronisch kranken Elternteilen aufwachsen, entwickeln möglicherweise Schuldgefühle (wenn die Vitalität des Kindes bspw. in Form von Spielen, Toben, Singen vom anderen Elternteil unterbunden wird, um den Betroffenen zu "schonen").


Manchmal verdecken Schuldgefühle andere, dahinter liegende, schwerer zu ertragende Emotionen wie Trauer, Ohnmacht, Wut und Angst. Schuldgefühle können bspw. ein Gefühl oder eher die Illusion von Kontrolle über eine unkontrollierbare Situation aufrechterhalten (z.B. nach dem Verlust einer nahestehenden Person).


Schuldgefühl vs. Schuld

Besonders bedeutsam ist im Hinblick auf Schuldgefühle die Abgrenzung von der Anerkennung realer Schuld (Schuldbewusstsein). Denn Schuldgefühle per se können, müssen aber nicht auf eine reale Schuld hinweisen. Die Aufgaben, die mit den beiden Phänomenen verbunden sind, unterscheiden sich naturgemäß erheblich. Unberechtigte Schuldgefühle sollten gemindert, reale Schuld anerkannt und betrauert werden.

Während Schuldgefühle das psychologisch-psychotherapeutische Fachgebiet betreffen, gilt das für die Feststellung realer Schuld grundsätzlich nicht. Reale Schuld unterliegt Definitionen juristischer, ethischer, religiöser Natur. 

Bei realer Schuld können ernsthafte Entschuldigungen, Wiedergutmachung oder Annehmen einer Strafe angezeigt sein, verbunden mit der Akzeptanz, einen Fehler gemacht zu haben, einen Schaden verursacht zu haben. Derartige Akzeptanz löst üblicherweise eine Trauerreaktion aus, die es zu durchleben gilt.


Prüfung unberechtigter Schuldgefühle

Schuldgefühle können irren - sind manchmal unrealistisch, unberechtigt, zu intensiv oder langanhaltend. In jedem Fall ist eine gewissenhafte Prüfung sinnvoll; die Ursachen von Schuldgefühlen gilt es zu erforschen. 

Vermeidung ist im Umgang mit Gefühlen, auch bei Schuldgefühlen, nicht hilfreich. Genauso wenig empfiehlt sich ein übermäßiges Vertrauen auf die mit Emotionen verbundenen spontanen Handlungsimpulse. Vielmehr geht es um bewusste Wahrnehmung und anschließende Prüfung von Bauchgefühlen. 

Bei unrealistischen Schuldgefühlen ist zunächst eine Bewusstwerdung zugrunde liegender Beziehungserfahrungen und daraus verinnerlichter Regeln, Überzeugungen und Werte hilfreich (Bsp.: Aus welcher Beziehungserfahrung stammt das Gefühl? Was habe ich damals an resultierenden inneren Gesetzen / Überzeugungen verinnerlicht? Inwiefern handelt es sich um ein für mich hier und heute sinnvolles Gebot?). Anschließend gilt es diese zu lockern, ihnen eine realistischere, weniger starre und weniger erdrückende Rolle zuzuordnen.

Manchmal kann ein hinter dem Schuldgefühl liegendes weiteres Gefühl oder Bedürfnis entdeckt werden: Der Wunsch nach Kontrolle, ein Bindungsbedürfnis, Trauer, Ohnmacht.

Ein wirksames Prinzip, unberechtigte Schuldgefühle zu mindern, ist Selbstmitgefühl: Sich selbst freundlich, wohlwollend, verständnisvoll begegnen, ähnlich einer besten Freundin / bestem Freund. Dazu gehört auch, sich zu erlauben, Fehler machen zu dürfen.

                                    

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