Perfektionismus: Bedeutung, Dimensionen, gesundheitliche Folgen

Alle | 8. März 2024

Definitionen, positiver Perfektionismus, klinischer Perfektionismus

Unter Perfektionismus wird ein Streben nach dem Vollkommenen, Idealen, Maximalen verstanden. Streben nach Vollkommenheit stellt einen natürlichen menschlichen Drang dar, der für die individuelle und gesellschaftliche Entwicklung bedeutsam ist. Bei einem gesunden Streben nach Perfektion geht es um die Sache an sich. Man erfreut sich daran, seine Sache so gut zu machen, wie einem persönlich möglich ist. Diese gesunde Variante ehrgeizigen Strebens wird auch positiver Perfektionismus genannt.


Gesundheitlich problematisch wird Perfektionismus, wenn Betroffene vermeiden, Fehler zu machen, um vor anderen makellos und fehlerfrei dazustehen. In ständiger Angst vor Kritik oder Ablehnung werden Anforderungen des Lebensalltages nicht entspannt und mit einer bejahenden Haltung angegangen. Im Rahmen eines Schwarz-Weiß-Bewertungsschemas (perfekt oder gar nicht, schon kleinste Fehler wären eine Katastrophe) werden diese zur Last und führen zu anhaltender innerer Anspannung und Rigidität im Denken.

Zum problematischen Perfektionismus gehört, dass der Selbstwert vom Erreichen der hohen Maßstäbe abhängt (erfolgsabhängiger Selbstwert). Problematischer Perfektionismus wird auch klinischer Perfektionismus genannt.


Negative Folgen des klinischen Perfektionismus

- Grübeln / Overthinking

- ein übermäßiges Kontrollbedürfnis und geringe Spontanität

- Aufschieben von Aufgaben (Prokrastination)

- Vernachlässigung anderer Lebensbereiche

- chronischer Stress, Erschöpfung und Überforderung, Burnout

- Schlafstörungen

- Belastungen in Beziehungen (Partnerschaft, Freundschaft, Arbeitsbeziehungen)

Darüber hinaus fördert Perfektionismus die Enstehung und Aufrechterhaltung verschiedener psychischer Erkrankungen (z.B. depressive Störungen, Angststörungen, zwanghafte Persönlichkeitsstörung).



Betroffene Lebensbereiche

Vom Perfektionismus können einzelne oder mehrere Lebensbereiche betroffen sein -  am häufigsten der berufliche oder schulische Kontext (Job, Business, Ausbildung, Studium), außerdem Sport, Hobbies, Haushaltsführung, Körper und äußeres Erscheinungsbild.


Dimensionen des Perfektionismus

Von Perfektionismus betroffene Menschen können hohe Maßstäbe an sich selbst richten und dabei sehr selbstkritisch und verurteilend mit sich umgehen (selbstgerichteter Perfektionismus) und/oder vermuten, dass andere sehr hohe Ansprüche stellen, die erfüllt werden müssen (sozialer Perfektionismus).

Beziehungen werden belastet, wenn der Perfektionismus sich nach außen richtet, d.h. dass an andere Menschen oder Gruppen sehr hohe Erwartungen gerichtet werden (außengerichteter Perfektionismus).


Die Psychodynamik des Perfektionismus: überhöhtes Ich-Ideal

Perfektionismus kann als Persönlichkeitsstil definiert werden, bei dem Betroffene ängstlich vermeiden, Fehler zu machen. Häufig bestehen erhebliche Ängste vor Kritik oder Ablehnung, die in einen übersteigerten perfektionistischen Selbstanspruch (überhöhtes Ich-Ideal) münden. Der überhöhte Selbstanspruch ist verbunden mit der Neigung die eigene fehlerhafte Menschlichkeit zu verdrängen und von sich selbst ununterbrochenes perfektes Funktionieren zu verlangen. Diese selbstschädigende Haltung hat einen hohen Preis: Das Einbüßen von Spontanität und Flexibilität und damit ein erheblicher Verlust der Lebensqualität. Oft besteht eine Abhängigkeit des Selbstwertes von Leistungen und Performance.
Gesunde Prioritäten sind gefährdet: Wer alles perfekt machen möchte um nicht kritisiert zu werden, verzettelt sich auch in Aufgaben, die möglicherweise nicht relevant sind.


Perfektionismus und Beziehungen

Oftmals wird der eigene Perfektionismus auf das Umfeld übertragen, so dass auch Beziehungen darunter leiden: Perfektionisten wirken im Denken und Handeln manchmal starr und unerbittlich und verlangen von ihren Mitmenschen möglicherweise ebenfalls einen überhöhten Leistungsanspruch. Daraus kann eine resignative, pessimistische oder gar verbitterte Haltung entstehen (wenn die Welt dem eigenen überhöhten Anspruch nicht genügt).


Mögliche Ursachen

Mögliche Ursachen eines perfektionistischen Persönlichkeitsstils umfassen genetische, familiäre, soziale, kulturelle und gesellschaftliche Faktoren.

Psychodynamisch wird eine Selbstwertproblematik vermutet, bei der Selbstunsicherheit durch Perfektionismus kompensiert wird, um vor sich selbst besser dazustehen. Genetische Faktoren können ein ängstliches Temperament begünstigen. Gesellschaftlich befeuert das allgegenwärtige Optimierungsfieber, immer besser werden müssen, im Sinne eines Selbstoptimierungszwanges die Ausbildung und Verstärkung perfektionistischer Persönlichkeitsmerkmale. Der Perfektionismus-Experte und psychologische Psychotherapeut Nils Spitzer stellt gar die Frage, ob wir in einer „Leistungsgesellschaft auf Speed“ leben.

Familiär können fehlende oder zu hohe Erwartungen der Eltern, kritische Eltern oder emotionslose, distanzierte Eltern die Ausbildung perfektionistischer Persönlichkeitsmerkmale fördern. Möglich ist auch eine Identifikation mit perfekt wirkenden Eltern oder eine Internalisierung elterlicher Ängste, wenn besonders auf Fehler und deren Konsequenzen hingewiesen wird. Wenn Kinder nicht für Bemühungen belohnt werden, können Selbstzweifel entstehen, verbunden mit der Überzeugung, elterliche Erwartungen nicht erfüllen zu können.
Bei Misshandlungen oder Demütigungen, die starke Schamgefühle beim Kind auslösen, hat Perfektionismus die Funktion, weitere Misshandlungen oder Demütigungen zu vermeiden.


Was helfen kann, Perfektionismus zu Flexibilisieren

Wer unter klinischem Perfektionismus leidet, kann eigene starre Maßstäbe lockern und seinen Selbstwert unabhängiger von Erfolg und Leistung machen. Dabei geht es nicht darum, hohe Ansprüche aufzugeben. Sondern darum, nicht mehr zu verbissen oder absolutistisch an ihnen festzuhalten und Selbstdialoge und Selbstbeziehung weniger unerbittlich und tyrannisch zu gestalten. Hilfreich ist dabei, das Selbst-Ideal bewusst zu beleuchten und eigene Fehlerhaftigkeit zu akzeptieren.


                                                     

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Quellen:

Raphael M. Bonelli, Perfektionismus: Wenn das Soll zum Muss wird, 337 Seiten, Droemer Verlag.

Flett, Gordon & Nepon, Taryn & Hewitt, Paul. (2015). Perfectionism, Worry, and Rumination in Health and Mental Health: A Review and a Conceptual Framework for a Cognitive Theory of Perfectionism. 10.1007/978-3-319-18582-8_6.

Nils Spitzer, Perfektionismus und seine vielfältigen psychischen Folgen: Ein Leitfaden für Psychotherapie und Beratung (Psychotherapie: Praxis), 175 Seiten, Springer Verlag.

Nils Spitzer, Perfektionismus überwinden: Müßiggang statt Selbstoptimierung, 162 Seiten, Springer Verlag.

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