Was Selbstmitgefühl (engl. Self-Compassion) bedeutet und wie es praktisch umgesetzt werden kann

Alle | 29. September 2023

Die drei Säulen des Selbstmitgefühls nach Kristin Neff

Selbstmitgefühl mindert unangenehme Emotionen und Grübeln und schützt wirksam vor Ängsten und Depressionen. Es stärkt Lebenszufriedenheit und emotionale Stabilität. Kurz: Es fördert die emotionale Resilienz, wie auch in zahlreichen Untersuchungen bestätigt wurde.

Selbstmitgefühl bedeutet, sich selbst mit der Freundlichkeit und Fürsorge zu begegnen, die wir einem guten Freund entgegenbringen würden. Selbstmitgefühl schützt vor harscher Selbstkritik, Selbstverurteilung und einem erhöhten, perfektionistischen Selbstanspruch. Es beinhaltet liebevolle Zuwendung und Verständnis, insbesondere auch eigenem Leiden und eigenen Fehlern gegenüber.

Laut Kristin Neff, Professorin für Psychologie und Persönlichkeitsentwicklung an der University of Texas in Austin, bedeutet Selbstmitgefühl "in den Momenten, in denen wir leiden, für uns selbst so zu sorgen, wie wir es für einen geliebten Menschen tun würden. Zu Selbstmitgefühl gehören ein liebevoller Umgang mit sich selbst, ein Gefühl der menschlichen Zusammengehörigkeit und Achtsamkeit.“


Selbstfreundlichkeit

Ein gewisses Maß an Selbstkritik ist grundsätzlich angemessen, abwertende harsche Selbstkritik und -verurteilung hingegen problematisch. Sie erzeugt Ärger über sich selbst, Scham, Schuld, Angst, Einsamkeit und Traurigkeit. Menschen, die sich stark selbst kritisieren, stellen oftmals überhöhte Forderungen an sich selbst (überhöhter Selbstanspruch, überhöhtes Selbst-Ideal).

Selbstfreundlichkeit bedeutet, einen verständnisvollen, wohlwollenden Umgang mit sich selbst zu kultivieren. Dazu gehört, eigene Schwächen zu verstehen und anzunehmen, anstatt sich dafür zu verurteilen. Es geht darum, entwertende Selbstdialoge zu beenden und sich zu trösten, besonders auch bei eigenen Fehltritten. Praktisch bedeutet Selbstfreundlichkeit zunächst einmal, eigene gewohnheitsmäßige selbstkritische und verurteilende Selbstdialoge bewusst wahrzunehmen und zu stoppen. Anstatt harscher Selbstverurteilung gilt es sich zu fragen: "Was würde ich mir jetzt sagen, und wie würde ich es sagen, wenn ich mir als gute Freundin / guter Freund begegnen würde?"


Ein Beispiel

Situation A

Du bist mit Freundinnen zum gemeinsamen Frühstück verabredet und jeder bringt etwas mit. Du bist für die Brötchen zuständig. Erst als du angekommen bist, stellst du fest dass du sie zu Hause hast liegen lassen. Eine Möglichkeit, sie noch zu holen oder neue zu kaufen, gibt es nicht. Ihr werdet mit Salaten und Belag vorlieb nehmen.

Wie denkst du in dieser Situation über dich?

Was genau sagen deine inneren Stimmen?

Welche Emotionen werden dadurch erzeugt?


Situation B

Du bist mit Freundinnen zum gemeinsamen Frühstück verabredet und jeder bringt etwas mit. Eine Freundin ist für die Brötchen zuständig. Als sie angekommen ist, stellt sie fest dass sie die Brötchen zu Hause hat liegen lassen. Eine Möglichkeit, sie noch zu holen oder neue zu kaufen, gibt es nicht. Ihr werdet mit Salaten und Belag vorlieb nehmen. Die Freundin macht sich Vorwürfe: "Was bin ich für eine Idiotin! Wie konnte ich so dumm sein, die Brötchen zu vergessen".

Wie denkst du in dieser Situation über deine Freundin?

Was genau würdest du deiner Freundin sagen?

Welche Unterschiede stellst du in den Antworten auf die Situationen A und B fest?

Verbundenheit (Gefühl der Menschlichen Zugehörigkeit)

Die zweite Komponente des Selbstmitgefühls bildet das Gefühl der menschlichen Zugehörigkeit. Es unterscheidet Selbstmitgefühl von reiner Selbstakzeptanz und Selbstliebe. Zur Verbundenheit gehört die Erkenntnis, dass die menschliche Erfahrung als solche unvollkommen ist und dass alle Menschen fehlbar sind. Falsche Entscheidungen sind im Leben schlichtweg unvermeidbar; Gefühle der Unzulänglichkeit und Enttäuschung sind uns allen gemeinsam. Kristin Neff unterscheidet dabei klar vom Selbstmitleid: "Während das Selbstmitleid "Ich Arme(r)" sagt, weiß das Selbstmitgefühl, dass jeder leidet, und es gewährt Trost, weil jeder menschlich ist". 

Wer sich auf eigene Schwächen und Unzulänglichkeiten fokussiert, ohne den größeren Zusammenhang der Zugehörigkeit zur menschlichen Gemeinschaft zu berücksichtigen, entwickelt hingegen eine Art emotionalen Tunnelblick, der Gefühle der Isolation und Wertlosigkeit bedingen oder verstärken kann. Sinnvoller ist es zu berücksichtigen, dass alle Menschen regelmäßig mit Schwierigkeiten zu kämpfen haben und alle Menschen Fehler begehen. Dieser Aspekt des Selbstmitgefühls - die menschliche Verbundenheit - erfüllt ein grundlegendes psychologisches Bedürfnis aller Menschen nach Zugehörigkeit. Neff betont " Wenn wir uns in Augenblicken der Schwäche mitfühlend daran erinnern, dass Versagen ein Teil der gemeinsamen menschlichen Erfahrung ist, dann empfinden wir in solchen Momenten Gemeinschaft statt Isolation." Schmerz bleibt in solchen Momenten weiter spürbar, er geht jedoch nicht mit Gefühlen der Isolation einher.


Achtsamkeit

Die dritte Komponente des Selbstmitgefühls ist Achtsamkeit. Achtsamkeit bedeutet, sich aller im inneren und äußeren Erleben auftauchenden Eindrücke in einer offenen, neugierigen Haltung gewahr zu sein, ohne sie zu bewerten. Eine derartige Geisteshaltung unterscheidet sich vom üblichen Alltagsbewusstsein, das oftmals von automatisierten unbewussten Reaktionen auf verschiedenste Außenreize gekennzeichnet ist. Das Konzept der Achtsamkeit wurde auf seine zahlreichen positiven Wirkungen auf Wohlbefinden und psychische Gesundheit umfangreich beforscht und wird heute in psychotherapeutische Behandlungskonzepte - besipielsweise bei depressiven Störungen und Angst - integriert. Im Bereich der Prävention wird es insbesondere als Methode zur Stressreduktion erfolgreich eingesetzt.

Bezogen auf das Konzept des Selbstmitgefühls ist besonders bedeutsam, wahrzunehmen wann wir uns schuldig, traurig, einsam, wertlos, unzulänglich fühlen. Erst mit der bewussten, achtsamen Wahrnehmung emotionalen Schmerzes kann eine heilsame Veränderung eintreten.

Oft neigen Menschen dazu, sich in Momenten, in denen sie hinter ihren Idealen zurückbleiben, ausschließlich auf eigenes Versagen zu fokussieren und sich dafür zu verurteilen. Anstatt automatisiert in Form von Selbstkritik, -ablehnung und -bestrafung zu reagieren, erschafft Achtsamkeit Freiräume, auf Situationen so einzugehen, dass unser Verhalten uns hilft, anstatt uns zu schaden. Sinnvoll ist es, auch den emotionalen Schmerz wahrzunehmen, der damit verbunden ist und mitfühlend darauf zu reagieren.

Gemäß der Formel "Leiden = Schmerz x Widerstand" entspringt Leiden dem Vergleich zwischen der Realität und unseren Idealen. Da das Alltagsgeschehen oftmals nicht den eigenen Erwartungen entspricht, ist Leiden allgegenwärtig. Anders ausgedrückt: Je mehr wir uns gegen das wehren, was gerade geschieht, desto intensiver leiden wir. Achtsamkeit erlaubt, die Tatsache zu akzeptieren, dass etwas Unangenehmes geschieht. Damit verbundene Emotionen können ihren natürlichen Lauf nehmen und schließlich wieder verblassen.

Beispiel einer praktischen Umsetzung: Das Mantra des Selbstmitgefühls

Eine Hilfe, sich selbst zu trösten und zu beruhigen

Kristin Neff regt an, eine persönliche Formel des Selbstmitgefühls zu entwickeln, auswendig zu lernen und sie sich immer wieder in Gedanken zu sagen, wenn etwas schiefläuft oder man etwas an sich nicht leiden kann. Sie empfiehlt vier Sätze, die sich an folgendem Muster orientieren können:

1 Dies ist ein Moment des Leidens. (Oder: Das ist jetzt wirklich hart für mich. Oder: Es tut mir weh, das jetzt zu fühlen usw.)

2 Leiden gehört zum Leben. (Oder: Jeder fühlt sich manchmal so. Oder: Das gehört zum Menschsein dazu usw.)

3 Möge ich in diesem Moment freundlich zu mir selbst sein. (Oder: Möge ich freundlich und verständnisvoll mit mir selbst umgehen o.ä.)

4 Möge ich mir selbst das Mitgefühl schenken, das ich brauche. (Oder: Ich bin es wert, Selbstmitgefühl zu empfangen o.ä.)

Der erste Satz fördert die Achtsamkeit hinsichtlich unangenehmer Emotionen und Empfindungen. Der zweite erinnert an das Gefühl der menschlichen Zugehörigkeit und daran, dass eigene Unvollkommenheit Bestandteil universeller menschlicher Erfahrung ist. Der dritte Satz hilft, sich mit Freundlichkeit und Fürsorge zu begegnen und der vierte Satz fördert die entschlossene Absicht, Selbstmitgefühl zu praktizieren und erinnert daran, dass man es wert ist, Mitgefühl und Fürsorge zu empfangen.


Zum Selbstmitgefühl exisistieren zahlreiche weitere erprobte Übungen, die in der Literatur, in Kursangeboten (MSC, zum Beispiel als 8-Wochen-Kurs) und Intensiv-Trainings vermittelt werden.

                                                 

Literaturempfehlung: 

Kristin Neff, Selbstmitgefühl: Wie wir uns mit unseren Schwächen versöhnen und uns selbst der beste Freund werden (384 Seiten, Kailash Verlag).

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