Introversion / Introvertiertheit
Erstmalig wurde das Persönlichkeitsmerkmal "Introversion" in den 1920er Jahren von C.G. Jung in dessen Typologie der menschlichen Psyche als Hinwendung der psychischen Energie nach innen beschrieben.
Still, zurückhaltend, leise, ruhig, gewissenhaft: Diese Merkmale beschreiben einen introvertierten Interaktionsstil. Bei 30 bis 50% der Menschen ist er anlagebedingt zu beobachten, wobei auch das jeweilige soziale Umfeld beeinflusst, wie ausgeprägt er in Erscheinung tritt. Introvertierte Menschen nehmen in größeren Gruppen eine eher passiv-beobachtende Rolle ein. Soziale Bindungen und Geselligkeit wünschen sie sich genauso wie Extrovertierte - allein das Ausmaß unterscheidet sich. Introvertierte bevorzugen oftmals wenige tiefe Freundschaften vielen oberflächlichen Bekanntschaften. Sie benötigen mehr Rückzugsräume und sehnen sich häufiger nach Ruhe; die Gesellschaft anderer ermüdet sie schneller. Nach Treffen in Gruppen fühlen sie sich eher erschöpft und erholen sich durch Zeit mit sich allein, wobei sie das Alleinsein genießen. Sie bevorzugen reizarme stille Umgebungen, auch zum Arbeiten. Zusammenfassend regenerieren Introvertierte wenn sie allein sind und fühlen sich mit weniger äußerer Stimulation wohler. Neurophysiologisch lassen sich im Vergleich zu Extrovertierten unter anderem Unterschiede in der Neurotransmitteraktivität (bspw. höhere Dopaminaktivität bei Extrovertierten, höhere Acetylcholinaktivität bei Introvertierten) und der neuronalen Reaktivität feststellen.
Das gesellschaftliche ideal der Extraversion
Die gesellschaftliche Ausrichtung und höhere Anerkennung gilt in unserem Kulturkreis extravertierten Persönlichkeitsmerkmalen wie Kontaktfreude, Geselligkeit, Aktivität, Risikofreude, Dominanz, Entscheidungsfreude, Zielorientierung und verbale Fähigkeiten. Sie gelten als erstrebenswert und erfolgsversprechend und sind im beruflichen Kontext tatsächlich bedeutsam.
In Zeiten von Großraumbüros, ausgeprägter Social-Media-Nutzung und der Erwartung ständiger Erreichbarkeit werden extrovertierte Interaktionsmuster zur Norm, die von introvertierten Menschen eine erhebliche Anpassungsleistung verlangt. Im Schulunterricht wird im Vergleich zum letzten Jahrtausend deutlich mehr Gruppenarbeit durchgeführt. Stille, Zurückhaltung und Scheu werden bei Heranwachsenden mitunter kritisch und teilweise gar als Ausdruck einer Entwicklungsstörung betrachtet. Heranwachsende introvertierte Menschen gewöhnen sich oftmals daran, sich an extrovertierte Normen anzupassen. Später, beispielsweise zum Zeitpunkt der Berufswahl, erscheint es ihnen möglicherweise normal, über eigene Bedürfnusse bzw. Wünsche hinwegzugehen.
Besondere Stärken leiser menschen
Besondere Stärken liegen im überlegten, besonnenen, konzentrierten Arbeiten, in der Beharrlichkeit und Hartnäckigkeit auch komplexe Probleme zu lösen und der geringeren Abhängigkeit von oberflächlichen Belohnungen (wie Geld und Status). Sie sind gute Zuhörer und haben besondere Voraussetzungen ihrer Kreativität Ausdruck zu verleihen. Sie sind sensibel, manchmal hochsensibel (70% der Hochsensiblen gelten als introvertiert, 30% als extrovertiert).
Abgrenzung von Schüchternheit
Introversion bedeutet nach innen gerichtete Aufmerksamkeit mit einem besonderen sozialen Interaktionsstil und ist per se nicht mit Leidensdruck verbunden. Schüchternheit bedeutet Angst, von anderen abgelehnt zu werden. Schüchternen Menschen macht der Kontakt mit anderen oftmals Angst und sie leiden üblicherweise darunter. Viele Introvertierte sind auch schüchtern, jedoch nicht alle. Zudem gibt es durchaus auch schüchterne Extrovertierte.
"Stille" Stärken akzeptieren, im Miteinander wachsen
Eine besondere Chance liegt sowohl für Intro- als auch für Extravertierte im Miteinander, ob am Arbeitsplatz, in Freundschaften, Familie oder in der Partnerschaft. Denn wenn im Miteinander beide Pole dieses Persönlichkeitsmerkmals eingebracht werden, wirken sie ausgleichend, ergänzen und befruchten sich. Doch wie kann das Miteinander von introvertierten Menschen so gestaltet werden, dass sie nicht übermäßig entgegen der eigenen Natur handeln? Die Basis dafür bildet Selbstakzeptanz. Anstatt sich pseudoextravertiert durch das Leben zu mühen und das Gefühl zu haben eine Rolle spielen zu müssen, empfiehlt es sich das eigene Wesen anzuerkennen und die eigenen Fähigkeiten und Talente bewusst einzusetzen. Hier gilt es auch mögliche nicht zutreffende Grundannahmen zu prüfen (Bsp.: "Etwas Grundlegendes stimmt bei mir nicht". "Ich muss bei Aktivitäten immer dabei sein, sonst finden mich die anderen komisch"). Anstatt das Leben an eigenen Bedürfnissen vorbei zu leben und Emotionen und Konflikte zu vermeiden kann eine regelmäßige Selbstreflexion hilfreich sein. Beispielsweise kann man regelmäßig innehalten und sich in freundlicher, geduldiger und wohlwollender Weise fragen: "Was will ich jetzt gerade? Was brauche ich jetzt gerade?". Sich im Alltag Räume der Regeneration zu schaffen gehört zu den wichtigsten praktischen Umsetzungen (Pausen, wohltuende Orte, Yoga, Meditation, bewusster Rückzug in das eigene Büro, Home Office Tage vereinbaren). Im Miteinander ist eine bewusste Entscheidung hilfreich, wann eine Anpassung sinnvoll ist und wann nicht. Sofern man eine Aufgabe als wertvoll empfindet, kann auch immer wieder eine Rolle angenommen werden, die dem eigenen Maß an Extraversion nicht entspricht. Handelt es sich um eine Herzensangelegenheit? Oder um einen Job, der zur Erfüllung sinnvoller Ziele gerade wichtig ist? Oder um einen Kompromiss in einer Partnerschaft zwischen einem intro- und einem extravertierten Menschen in puncto Freitzeitgestaltung? Eine besondere Entwicklungsaufgabe besteht in der verbalen Kommunikation. Gedanken nachdrücklich zu äußern (ohne extravertierte Interaktionsmuster nachzuahmen) kann erlernt werden. Dazu gehört auch, sich klar auszudrücken und abzugrenzen.
Selbstverständlich handelt es sich bei den Polen Intro- und Extraversion nur um EINE Dimension der Persönlichkeit, die mit anderen interagiert und zudem in sehr unterschiedlicher Ausprägung vorliegen kann. Insofern werden Vereinfachung und Pauschalierung von Merkmalen der Komplexität einer Persönlichkeit nicht gerecht. Dennoch können hinsichtlich des eigenen Ausmaßes an Introversion eine bewusste Reflexion, Akzeptanz und Selbstfürsorge helfen, die Lebensqualität zu verbessern.
Literaturempfehlung
Susan Cain: Still, die Bedeutung von Introvertierten in einer lauten Welt (448 Seiten, Riemann Verlag).
Wie schätzt du dich ein? Vorwiegend / ausgeprägt introvertiert / extravertiert? Möchtest du etwas ergänzen? Lass' es mich wissen! Schicke eine Mail an hallo@verenakoch.com
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