Definition und soziale Funktionen von Schamgefühlen
Während über den Charakter und die Regulation anderer unangenehmer Gefühle wie Angst und Wut in der Fachwelt ein reger, umfangreicher Austausch stattfindet, gilt das für Schamgefühle interessanterweise weniger. Entsprechend ihrer Natur, sich verstecken zu wollen, andererseits in besonderer Weise ansteckend zu sein ("fremdschämen", Peinlichkeit) entziehen Schamgefühle sich oftmals einer bewussten Wahrnehmung und Reflexion - sowohl bei Betroffenen als auch bei Fachleuten wie Psychotherapeuten.
Schamgefühle sind aversive Gefühle, die auftreten, wenn wir uns den Blicken anderer ausgesetzt und unerwartet bloßgestellt fühlen. Sie breiten sich besonders schnell aus und werden als überflutend empfunden, wobei Angst und Gefühle der Hilflosigkeit damit einhergehen können. Stark verknüpft mit dem Schamaffekt ist das Selbstwertgefühl: Wenn wir uns schämen, fühlen wir uns minderwertig. Körperlich kann Scham mit Erröten, Berührungen des eigenen Gesichtes oder Körpers, Grinsen, Lachen, Stottern, Abwenden des Kopfes und insbesondere des Blickes einhergehen.
Schamgefühle haben wichtige soziale Funktionen: Sie dienen dazu, Zusammenhalt, Zugehörigkeit und Konformität von sozialen Gruppen zu bewahren. Die Vemeidung von Handlungen, die Schamgefühle auslösen könnten, schützt vor Ablehnung oder gar Ausschluss aus Gruppen. Auf der individuellen Ebene hat Scham die unentbehrliche Funktion, die Intimsphäre und persönliche Grenzen zu schützen.
Vom kurzfristigen Schamgefühl ist die verinnerlichte Scham abzugrenzen, die mit andauernden selbstentwertenden Haltungen einhergeht ("innerer Richter", siehe unten) .
Theoretische Konzepte über Bedeutung und Entstehung von Scham
Sigmund Freud, Begründer der Psychoanalyse, verstand Schamgefühle im Rahmen der Triebtheorie als Abwehrmechanismus gegen unerwünschte triebhafte Strebungen (konkret als entgegengesetzte Reaktion zum Impuls, sich zur Schau zu stellen). Er erwähnte sie allerdings auch vice versa als Gefühle, die abgewehrt werden, weiterhin als Gefühle die in einem sozialen Kontext auftreten und in Verbindung mit dem Ich-Ideal. (Als Ich-Ideal werden persönlichen Vorstellungen "richtigen" Verhaltens, "richtiger" Werte und Ziele bezeichnet). Andere - selbstpsychologische - Theorien betonen besonders, dass Schamgefühle Konflikte zwischen Ich und Ich-Ideal ausdrücken.
Entwicklungspsychologisch wird die intersubjektive Natur der Scham betont, beispielsweise wenn Kinder als nicht liebenswert angesehen werden, keine Anerkennung ihres So-Seins finden. Als "Urscham" wird die Scham bezeichnet, die entsteht, wenn Kinder unwillkommen sind, abgelehnt, in ihrer Existenz verachtet werden. Diese Scham kann in der späteren Überzeugung zum Ausdruck kommen, nicht liebenswert zu sein. Scham weist demnach auf die Qualität von Beziehungen mit frühen Bezugspersonen hin: Wurden kindliche Bedürfnisse wie die empathische Spiegelung von Gefühlen befriedigt, fühlte das Kind sich angenommen (auch in negativen Gefühlszuständen), anerkannt, bewundert? Derartige Beziehungsqualitäten tragen entscheidend zur Entwicklung eines stabilen Selbstwertgefühls bei.
Neben der Urscham werden aus psychoanalytischer Perspektive die Scham für eigene Bedürfnisse im Allgemeinen, die Abhängigkeitsscham (Scham über Abhängigkeitswünsche, intensive Bindungswünsche) und die ödipale Scham (Scham über Gefühle gegenüber dem gleichgeschlechtlichen und dem gegengeschlechtlichen Elternteil) unterschieden.
Insgesamt werden Schamgefühle heute am ehesten als soziale Affekte ("Beziehungsaffekte") verstanden und nicht zwingend als Ausruck eines innerpsychischen Geschehens.
Wie Schamgefühle unbewusst vermieden werden
Den damit einhergehenden unangenehmen Qualitäten entsprechend wird die Entstehung oder Wahrnehmung von Schamgefühlen oftmals unbewusst vermieden (sog. "Abwehr"): Wir begegnen möglicher Scham beispielsweise mit Rückzug, Vermeidung oder Aggression (gegenüber uns selbst oder anderen). Möglicherweise werden Schamgefühle nicht direkt wahrgenommen, sondern durch Angst maskiert. Gefühle wie Wut, Verachtung oder Neid können ebenfalls vor der Wahrnehmung von Schamgefühlen, Beschämung und Wertlosigkeit schützen. Gemeinsamkeiten bestehen zwischen Scham- und Schuldgefühlen: Beide führen dazu, sich selbst in Frage zu stellen, wobei sich Schuldgefühle auf Handlungen beziehen und Schamgefühle auf Qualitäten des Selbst an sich.
Hilfreiche Fragen bei übermäßigen Schamgefühlen
Bei anhaltenden oder besonders ausgeprägten Schamgefühlen, die die Lebensqualität beeinträchtigen, gilt es, tief verwurzelte Selbstverurteilungen zu identifizieren: Welcher Anteil verurteilt und entwertet mich selbst, wo ist dieser Anteil im biographischen Bezug zu verorten, woher stammen diese selbstentwertenden Überzeugungen ursprünglich? An welche Stimme erinnert mich diese oder jene Verurteilung oder Selbstkritik möglicherweise? Inwiefern verurteile und beschäme ich mich heute so wie es mir damals von außen widerfahren ist?
Übermäßige Scham, Perfektionismus und harsche Selbstkritik können Ausdruck eines entwertenden, strafenden, verurteilenden Umgangs mit uns selbst sein. Möglicherweise haben wir aus frühen Erfahrungen heraus die ängstliche Erwartung, verlassen, verurteilt, hart bestraft, ausgestoßen zu werden. Hilfreich ist dann, ein Gegengewicht zu dieser übermäßig selbstkritischen inneren Instanz auszubilden, indem wir eine achtsame, mitfühlende, wohlwollende Haltung uns selbst gegenüber kultivieren.
Schau' auch in meinen Blog-Artikel zur Bedeutung der mit Schamgefühlen verwandten Schuldgefühle.
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