Sigmund Freud bewertete den Glauben an Gott in den 1920-er Jahren noch als Zwangsneurose. Das mag dazu beigetragen haben, dass Spiritualität und Religiosität über Jahrzehnte hinweg aus dem psychotherapeutischen Kontext eher ferngehalten oder bagatellisiert wurden.
Seit den 1990-er Jahren findet der Begriff in der psychologisch-psychotherapeutischen Fachliteratur jedoch zunehmend Verwendung und erfreut sich großer Popularität - sowohl in der Psychologie als auch in der Umgangssprache.
Im Rahmen der Gesundheitsforschung werden heute standardisierte Fragebögen zur Spiritualität eingesetzt. Doch was ist damit eigentlich gemeint? Wie kann Spiritualität definiert werden?
Als Ausdruck höchst individueller Erfahrungen lässt sich Spiritualität naturgemäß nicht eng und ganz eindeutig definieren. Vielmehr handelt es sich um ein mehrdimensionales Phänomen.
Prof. Anton A. Bucher, Universitätsprofessor für Religionspädagogik an der Universität Salzburg, beschreibt in seinem Buch "Psychologie der Spiritualität" folgende Dimensionen:
Spiritualität als Erfahrung der Verbundenheit
Zentral ist die Dimension der Verbundenheit (connectedness). In vielen Berichten spiritueller Erfahrungen beschreiben Menschen das Empfinden von Einheit / Eins-Sein, wodurch sich Wahrnehmung und subjektive Bedeutungen von Lebensereignissen und Zusammenhängen und die Lebensführung maßgeblich verändern können.
Diese Verbundenheit kann "vertikal" auf ein höheres Wesen, Gott, das Göttliche in allem, höhere Macht ausgerichtet sein. Oder sie kann sich "horizontal" auf die Natur, das Universum / Kosmos, das soziale Umfeld beziehen.
Spiritualität als Selbsttranszendenz
Wenn im Rahmen einer persönlichen Entwicklung eine zu starke, möglicherweise verbissene Bezogenheit auf das Selbst besteht, kann diese den angestrebten Zielen der Selbstverwirklichung und einer heilsamen persönlichen Entwicklung entgegenstehen. Die Weiterentwicklung des Selbst setzt auch eine Öffnung nach außen, eine Zuwendung zu anderem und anderen voraus. Selbsttranszendenz bedeutet Hingabe an etwas oder jemanden außerhalb, z.B. im Dienst an einer Sache oder in der Liebe zu einem anderen Menschen. Selbsttranszendenz setzt die Fähigkeit zur Selbstdistanzierung und eine Orientierung an persönlichen Werten voraus.
Spiritualität als Hilfe bei der Suche nach Sinn
Besonders in krisenhaften Lebenssituationen wie schweren Erkrankungen oder nach dem Verlust eines geliebten Menschen kann Spiritualität sinngebend wirken. Bestehender Lebenssinn wird möglicherweise hinterfragt und neu gefunden. Nicht selten orientieren sich Menschen nach einem einschneidenden Lebensereignis in einem oder mehreren Lebensbereichen ganz neu - getragen von der Kraft ihrer spirituellen Entwicklung.
Spiritualität als Praxis
Spiritualität bedeutet auch gelebte Praxis: Meditation, Kontemplation, Gebet, Yoga, Pilgern. Neben formellen Praktiken gehört dazu die Integration in den Lebensalltag. Das Prinzip der Achtsamkeit kann beispielsweise in Gesprächen, bei der Hausarbeit, Spazieren und anderen Tätigkeiten angewandt werden.
Weitere Bedeutungen von Spiritualität
Spiritualität wird auch mit paranormalen Erfahrungen assoziiert. Dazu gehören beispielsweise Begegnungen mit Engeln, geistigen Wesen und Nahtoderfahrungen.
Spiritualität und Religiosität: Gemeinsamkeiten und Abgrenzung
Während manche Menschen sich als spirituell ODER religiös bezeichnen, geben andere an, sich sowohl spirituell als auch religiös zu empfinden.
Religiosität wird unter anderem als Beziehung eines Menschen zu dem, was für ihn göttlich ist, definiert. Sie bezieht sich auf Gott, aber auch auf institutionelle Strukturen und Gemeinschaften. Spiritualität betont mehr die individuellen Erfahrungen des Einzelnen, ist weniger traditionell und bewahrend, sondern innovativer und offener ausgerichtet. Dabei kann ein Bezug zu traditionellen religiösen Inhalten bestehen, muss aber nicht. Wiederum können Menschen sich ohne spirituelle Erlebnisqualitäten als religiös empfinden.
Die Bedeutungen überschneiden sich, wenn Spiritualität sich auf Religiöses bezieht oder wenn Religiosität von spirituellem Erleben durchdrungen ist. Religionen haben immer auch spirituelle Praktiken hervorgebracht, wie Meditation und Achtsamkeit.
Was bedeutet Spiritualität für dich ganz persönlich? Du hast Fragen oder möchtest etwas ergänzen? Dann schicke eine Mail an hallo@verenakoch.com, ich freue mich von dir zu lesen!