Abwehr: Eine Definition und wozu sie dient
Um die bewusste Wahrnehmung vor Unerträglichem, Bedrohlichem und Störendem zu schützen, bedient sich die menschliche Psyche verschiedener unbewusster Mechanismen, die als Abwehr bezeichnet werden. Sie hilft uns, innerpsychische und zwischenmenschliche Konflikte zu kompensieren und uns emotional zu entlasten. Abwehrmechanismen können kreative und künstlerische Leistungen ermöglichen und sind grundsätzlich nicht pathologisch. Es handelt sich um ein universales menschliches Phänomen, das der Selbstregulation dient; wir alle nutzen Abwehrmechanismen um uns vor unangenehmen Emotionen zu schützen. Beispiele für Abwehrmechanismen sind Verdrängung, Reaktionsbildung, Projektion, Spaltung, Verleugnung, Isolierung, Identifikation mit dem Agressor, Wendung gegen das Selbst, Sublimierung und Humor.
Abwehr richtet sich gegen Motive, die Angst, Scham oder Schuldgefühle auslösen könnten. Wenn sie besonders starr und ausgeprägt in Erscheinung tritt, kann das problematische Folgen haben und psychische Erkrankungen auslösen.
Sigmund Freuds Tochter Anna Freud, die sich intensiv mit Abwehrmechanismen beschäftigte, unterschied Triebabwehr und Affektabwehr.
Triebabwehr
Mit Trieb ist in diesem Zusammenhang eine innere Strebung, ein Drang gemeint, der sich in einer körperlichen Spannung zeigt und immer auch psychische Wirkungen in Form von Vorstellungen und Affekten hat ("Triebrepräsentanzen"). Ein innerer Reiz erzeugt dabei einen unangenehm empfundenen Spannungszustand (z.B. Hungergefühl), der mit dem Wunsch nach Triebbefriedigung (z.B. Triebziel: Sättigung) einhergeht. Triebe dienen der Art- und Selbsterhaltung (Bsp.: Primärtriebe wie Nahrung, Atmung, Entspannung, Sexualität und Sekundärtriebe wie Anerkennung, Bindung, Sicherheit). Gemäß psychoanalytischem Strukturmodell (Es, Ich, Über-Ich) werden die Triebe dem angeborenen Teil der Psyche, dem Es zugeordnet und vom Ich abgewehrt. Triebe werden von dem Streben beherrscht, Lust zu gewinnen und Unlust zu vermeiden.
Nach den Ursachen differenzierte Anna Freud Triebabwehr wie folgt:
- Triebabwehr aus Über-Ich-Angst
Dabei werden Triebwünsche vom Über-Ich abgewehrt. Das Über-Ich steht für die innere moralische Instanz, für Regeln, Gebote und Verbote, die wir uns selbst auferlegen. Um einer Strafe des Über-Ichs zu entgehen bzw. Schuldgefühle zu vermeiden werden die Triebwünsche bekämpft.
- Triebabwehr aus Realangst
Hierbei geht es nicht um innere, sondern äußere Gebote, Regeln und Verbote. Um Strafen der Außenwelt (z.B. der Eltern) zu vermeiden, wird den Triebwünschen eine Abwehr entgegengesetzt.
- Triebabwehr aus Angst vor der Triebstärke
Hiermit ist ein der menschlichen Psyche grundlegend innewohnendes Misstrauen gegenüber den Triebansprüchen gemeint. Dabei geht es nicht um die qualitative Komponente, sondern um Schutz vor einem "Zuviel", vor einer möglichen Überflutung durch Triebwünsche.
- Bedürfnis des Ichs nach Synthese
Dabei handelt es sich um das unbewusste Bemühen, Widersprüchliches zu vermeiden und Aspekte abzuwehren, die Unsicherheiten oder Ambivalenzen auslösen könnten. So kann ein Gefühl von Selbstkohärenz erlebt und aufrechterhalten werden.
Affektabwehr
Laut Anna Freud wird nicht der Trieb (s.o.) als solcher abgewehrt, sondern die damit einhergehende psychische Ausgestaltung (Triebrepräsentanzen), wie unangenehme Gefühle (Angst, Scham und Schuldgefühle). Abwehr zielt demnach auf eine Veränderung des affektiven Erlebens (v.a. bei der Somatisierung, Verschiebung und Reakionsbildung, s.u.).
Zusammenfassend dient Abwehr im Sinne der Triebtheorie der Vermeidung von Unlust, genauer der damit verbundenen unlustvollen Affekte wie Angst, Schuldgefühlen und Scham.
Beispiele verschiedener Abwehrmechanismen
Verdrängung
Die Verdrängung - als Basis für alle weiteren Abwehrvorgänge - verschiebt Inhalte in das Unbewusste. Andere Abwehrmechanismen können als Kombination aus Verdrängung und einem weiteren Abwehrvorgang beschrieben werden. Verdrängung kann auch als unbewusstes, absichtsvolles Vergessen bezeichnet werden. Sie unterscheidet sich vom üblichen Vergessen dadurch, dass übliches Vergessen einen inaktiven Vorgang darstellt, bei dem Erinnerungen verblassen. Bei der Verdrängung werden Inhalte hingegen aktiv aus dem Bewussten ferngehalten. Das Verdrängte kann sich entgegen dieser aktiven Zensur andere Wege bahnen und z.B. in Träumen zutage treten oder auch in ungünstigen Verhaltensmustern oder Symptomen zum Ausdruck kommen.
Bsp.:
Eine homoerotische Neigung entzieht sich komplett der bewussten Wahrnehmung, damit eine bevorstehende Heirat und Familienplanung nicht gefährdet werden.
Projektion
Projektion bedeutet, dass eigene Eigenschaften, Impulse, Wünsche, Emotionen, die abgelehnt werden (weil sie bspw. moralischen oder gesellschaftlichen Vorgaben nicht entsprechen) nach außen übertragen werden - meist auf andere Personen oder Gruppen.
Bsp.:
Jemand ist in einer Beziehung übermäßig eifersüchtig und wirft seiner Partnerin unbegründet Untreue vor. Damit verbirgt er, dass er selbst mit jemand anderem flirtet (und vermeidet damit verbundene Schuldgefühle).
Spaltung
Spaltungsabwehr bedeutet, sich selbst, andere oder auch Beziehungen nur als gut oder nur als böse zu beurteilen. Damit wird vermieden, sich mit Ambivalenzen (emotional Unvereinbarem) auseinanderzusetzen, die Spannungen und Ängste erzeugen können. Das Selbstbild und das Bild von anderen pendelt zwischen Idealisierung und Entwertung.
Bsp.:
Eine Frau, die seit der Kindheit unter erheblichen Verlustängsten leidet, wird von ihrem Partner regelmäßig misshandelt. Sie erhält ihm gegenüber eine bewundernde Haltung aufrecht. Durch die Spaltung werden ihre Ängste abgewehrt.
Verschiebung
Bei der Verschiebung werden aufgestaute Emotionen (meist Wut, Ärger, Aggression) nicht beim auslösenden Objekt entladen, sondern auf ein anderes Objekt übertragen, das mit der auslösenden Situation nichts zu tun hat ("Ersatzobjekt").
Bsp.:
Wir werden von einem Vorgesetzten besonders harsch getadelt. Die damit verbundene Frustration bringen wir in diesem Moment nicht zum Ausdruck, beginnen jedoch später am Tag ohne relevanten Anlass mit unserem Partner zu streiten und beschimpfen ihn.
Somatisierung
Psychische Belastungen - typischerweise im Erleben von Beziehungen - werden körperlich ausgedrückt. Dabei werden Affekte wie Schuldgefühle, Angst und Scham in körperliche Beschwerden umgewandelt.
Bsp.:
Chronische Schmerzen können unbewusste Schuldgefühle zurückdrängen.
Reaktionsbildung
Bei der Reaktionsbildung findet eine Verkehrung in das Gegenteil statt: Ein Triebimpuls, der Angst oder andere unangenehme Emotionen auslöst, wird mit einem gegenteiligen Verhalten beantwortet.
Bsp.:
Eine Zuneigung zu einer Person, die sozial nicht akzeptabel ist und eigenen moralischen Vorstellungen widerspricht, wird in abweisendes, distanziertes Verhalten umgewandelt.
Wendung gegen das Selbst
Aggressive Impulse, Abneigung oder Hass, die sich nicht gegen die (aktuell oder früher) auslösenden Objekte richten, werden in autoaggressiver Weise gegen das Selbst umgelenkt.
Bsp.:
Jemand wird von seinem Partner regelmäßig gedemütigt und reagiert darauf mit erheblichen Selbstvorwürfen oder Selbstverletzungen.
Verleugnung
Eine unangenehme äußere Realität wird nicht wahrgenommen und damit nicht angenommen.
Bsp.:
Eine alkoholabhängige Person, die Vorräte alkoholhaltiger Getränke vor ihren Angehörigen versteckt und deren Ehe an den Folgen der Sucht zerbrochen ist, sieht ihren Alkoholkonsum als völlig unproblematisch an.
Humor
Humor als reife Form der Abwehr trotzt ungünstigen realen Verhältnissen; die Diskrepanz zwischen wahrgenommener Wirklichkeit und Ideal wird durch Humor besser erträglich. Unangenehme Affekte werden dabei in gesunder Weise durch lustvolle kompensiert.
Sublimierung
Bedürfnisse bzw. Triebwünsche (Impulse des Es) , die gesellschaftlich bzw. sozial nicht akzeptabel sind (vom Über-Ich nicht akzeptiert werden), werden vom Ich in sozial akzeptabler Weise befriedigt. Die Kreativität Erwachsener ist demnach oft Ausdruck gelungener Sublimierung. Laut Sigmund Freud bildet die Sublimierung die Grundlage für die Entwicklung jeglicher Kultur und wird auch als erfolgreiche und reifste Form der Abwehr bezeichnet.
Bsp.:
Jemand zündelt als Jugendlicher gerne und wird später Feuerwehrmann.
Inakzeptabel bewertete sexuelle Phantasien werden durch Erschaffen von Kunstwerken sublimiert.
Rationalisierung
Eigene Handlungen, Gedanken oder Gefühle werden logisch begründet bzw. gerechtfertigt (unbewusst "vorgeschoben"), um sich mit den echten Handlungsmotiven nicht auseinandersetzen zu müssen.
Bsp.:
Eine Studentin hat eine wichtige Prüfung nicht bestanden. Sie begründet dies damit, dass sie während der Prüfung unter Rückenschmerzen litt. Damit vermeidet sie die Konfrontation mit der unangenehmen Tatsache, dass sie kaum für die Prüfung gelernt hatte.
Regression
Regression bedeutet Rückkehr in eine frühere Phase der Entwicklung.
Bsp.:
Aus dem Empfinden der Vernachlässigung nässt ein Kind, das bereits trocken war, nach der Geburt seines Geschwisterchens wieder ein.
Nach einer Trennung zieht eine junge Frau zurück in ihr Elternhaus und lässt sich von den Eltern täglich bekochen.
Ein Erwachsener weint, wimmert und schimpft, als sein PC abstürzt.
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