"Es geht (...) nicht darum, keine Angst zu haben, sondern darum, Angst ertragen und konstruktiv verwenden zu können". - Angelika Ebrecht-Laermann, Prof. Dr. phil., Dipl.-Psych., Psychoanalytikerin.
Angst zählt neben Freude, Ärger, Traurigkeit, Ekel, Überraschung und Neugier zu den primären Affekten (Grundemotionen). Als menschliche Grunderfahrung begleitet sie uns alle. Dabei versuchen wir, bewusst oder unbewusst, ihr in vielfältiger Weise auszuweichen. Sie löst unangenehme Empfindungen aus, wie ein Gefühl der Bedrohung und Enge, geht mit Anspannung und verschiedenen körperlichen Reaktionen einher (Schwitzen, Zittern, Herzklopfen, Gefühl der Atemnot). Wie bei anderen Affekten wird bei der Angst durch ein äußeres Geschehen ein innerer Vorgang ausgelöst, der - beispielsweise in Form von Gefühlen und Körperempfindungen - wahrgenommen wird. Angst zeigt verschiedene Intensitäten und Erscheinungsformen, wie Schüchternheit, Ängstlichkeit, Schrecken bis hin zu Panik, Horror, Schaudern, Beben, Entsetzen, usw.
Angst ist in ihrer Funktion, vor Gefahren zu warnen, unverzichtbar. Ein Zuviel geht hingegen mit problematischen Folgen einher: Wer von Ängsten überflutet wird, ist kaum mehr in der Lage, klar zu denken und sinnvoll zu handeln. Sofern Angst andererseits vermieden bzw. unbewusst verdrängt oder projiziert wird, kann sie sich in zwischenmenschlichen Beziehungen durchaus sehr destruktiv auswirken, beispielsweise zu Agressionen und Gewalt führen.
Angst als Trennungsaffekt
Mit dem Versuch, einzelnen Qualitäten der Angst einen Namen zu geben und sie bestimmten sozialen Situationen zuzuordnen, wird sie besser greifbar und verstehbar. Angst als komplexes Phänomen geht jedoch über eine Furcht vor etwas Bestimmtem (wie Angst vor Krankheit oder Alleinsein) hinaus. Das zeigt sich beispielsweise bei der Angst im Dunkeln, die nicht nur Kinder betrifft und mit dem Charakter des Unheimlichen, schwer Fassbaren einhergeht und wenig Realitätsbezug aufweist. Die Angst, im Dunkeln könnte man verloren und verlassen sein, deutet auf den Beziehungsaspekt der Angst hin. Es geht auch um Bedrohung von Beziehungen und darum, die Orientierung hilfreicher Objekte zu verlieren: Bei der Angst handelt es sich um einen Trennungsaffekt.
Ursachen von Angst
Gemäß lerntheoretischer Modelle kann sich Angst als Folge fehlerhafter Lernprozesse entwickeln. Psychoanalytische Theorien gehen ursächlich von lebensgeschichtlich früh entstandenen Konflikten (inneren Ambivalenzen) aus, die unzureichend gelöst werden, andauern und besonders bei belastenden Lebenskonstellationen dekompensieren und zu krankheitswertigen Angststörungen führen können. Zudem können übermäßige Ängste durch sogenannte strukturelle Störungen entstehen, bei denen basale psychische Funktionen (u.a. Selbstwahrnehmung, Wahrnehmung anderer, Impulskontrolle, emotionales Kommunikationsvermögen) nicht oder nicht ausreichend verfügbar sind. Strukturelle Störungen enstehen in frühen Lebensphasen, beispielsweise durch Vernachlässigung oder traumatisierende Lebensumstände.
Im Folgenden wird ein Überblick verschiedener klassischer psychoanalytischer Annahmen über die Entstehung von Angst gegeben.
Anmerkung zur Begrifflichkeit "Objekt": Damit sind vor allem wichtige frühe Bezugspersonen gemeint. (Diese Definition ist vereinfacht und nicht immer zutreffend, im Rahmen der folgenden Ausführungen aber grundsätzlich passend).
Angsttheorien nach Sigmund Freud
Freud entwickelte verschiedene Theorien zur Angst; er bezeichnete Angst als Grundphänomen und als Hauptproblem aller Neurosen. Zunächst verstand er sie als Folge von Verdrängung im Sinne einer nicht adäquaten psychischen Verarbeitung eines körperlichen Erregungs-/Anspannungszustandes. Damit ordnete er der Angst zunächst einen physiologischen Ursprung zu. Weiterhin benannte er Verdrängungen in Folge von Traumata als mögliche Ursachen von Angst. Später deutete er Angst nicht als Folge, sondern als Ursache von Verdrängung und betonte zunehmend den Aspekt der Beziehungsstörungen: Angst resultiert demnach aus frühkindlichen Trennungserfahrungen. An anderer Stelle verstand er Angst als Folge eines zu strengen Über-Ichs.
Er unterschied Realangst (auf äußere Umstände bezogen) von Signalangst (neurotischer Angst), die sich wiederum generalisiert oder phobisch ausdrücken kann.
Angsttheorien nach Melanie Klein
Melanie Klein, Begründerin der Objektbeziehungstheorie, verstand Angst als Ausdruck einer Bedrohung von Beziehungen. Bereits mit der Geburt kann ein Wechsel emotionaler Zustände zwischen Geborgenheit und Halt einerseits und der Furcht, diese zu verlieren andererseits, eine paranoide Angst auslösen. Äußere (Partial-)Objekte wie die Mutterbrust können dann feindselig erscheinen. Infolge der Angst, vom Objekt vernichtet zu werden, entwickelt der Säugling destruktive Triebregungen und Phantasien. Daraus resultieren wiederum Ängste vor einer Vergeltung seitens der Objekte.
Zunächst in ausschließlich gute und ausschließlich böse aufgespaltene Objekte werden im Verlauf der weiteren kindlichen Entwicklung von reiferen Beziehungsvorstellungen abgelöst. Dem Gegenüber können schließlich sowohl gute als auch schlechte Eigenschaften zugeschrieben werden. Die Angst vor Vernichtung und Vergeltung wandelt sich in eine Angst um das Objekt, es entwickeln sich nunmehr Schuldgefühle, Trauer und der Wunsch nach Wiedergutmachung. Insofern dient Angst ausdrücklich auch als Motor der psychischen Entwicklung.
(Anmerkung: Die Theoriebildung Kleins zu frühkindlichen Ängsten ist mit dem heutigen entwicklungspsychologischen Wissenstand nicht kompatibel).
Angsttheorien nach Donald W. Winnicott
Winnicott betont die hohe Abhängigkeit von einer haltgebenden Umgebung in der frühesten Lebensphase. Die erste frühkindliche Angst entsteht demnach durch Verlust bzw. Unterbrechungen im Erleben der Beziehung zur haltgebenden Mutter. Diese Angst bezeichnet er als archaisch, als Angst vor Vernichtung. Andere Ängste (wie Trennungsangst, Kastrationsangst, Angst vor Objektverlust, Angst vor den eigenen Triebimpulsen) ordnet er späteren Entwicklungsphasen zu. Die frühe Angst vor Vernichtung hat laut Winnicott explizit auch eine entwicklungsfördernde Funktion, sofern die frühe Bezugsperson dem Kind in ausreichendem Maße Fürsorge gibt.
Angsttheorien nach Wilfried Bion
In Anlehnung an die Lehre Kleins beschreibt Bion eine in der frühesten Lebensphase bestehende namenlose Angst mit quälenden, unverdauten, rohen Eindrücken ("Beta-Elemente"), die durch gelingendes Containing seitens der primären Bezugsperson gewandelt werden kann. Containing bedeutet, dass die Bezugsperson die kindlichen Affekte wahrnimmt, aufnimmt, deutet d.h. in eine benennbare und symbolisierungsfähige Angst wandelt und schließlich etwas an das Kind zurückgibt (z.B. liebevolle Zuwendung). Mit der Verinnerlichung dieser positiven Beziehungserfahrung, der "guten Brust" wird dem Säugling ermöglicht, die Angst in einer erträglichen Form des Denkens und Erlebens zu sogenannten Alpha-Elementen zu verarbeiten (reifere emotionale Erfahrungen, die gedacht und geträumt werden können).
Angsttheorien nach Michael Balint
Gemäß Balint handelt es sich bei der Entdeckung der Getrenntheit vom Objekt und der Wahrnehmung, dass das Objekt selbst eigene Ansprüche und Wünsche hat, um traumatische Ereignisse. Daraus können sich - in Abhängigkeit von der Beziehungsgestaltung seitens der Bezugsperson - zwei Objektbeziehungstypen bzw. Persönlichkeitsstile bilden: die Oknophilie oder der Philobatismus. Beide gehen mit der Angst um die Objektbeziehung einher. Um die Angst vor dem Objektverlust zu reduzieren, klammert sich der Oknophile an das Objekt (Anklammern in Beziehungen, Angst vor Misslingen, Anlehnungsbedürfnis). Der Philobat fühlt sich hingegen von Objekten unabhängig, verleugnet die Bedeutung des Objektes oder die Gefahr des Objektverlustes, geht im Vertrauen auf die eigene Stärke Risiken ein, die er genießt, strebt Erfolge an und wahrt zwischen sich und seinen Objekten eine sichere Distanz.
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