Eine Definition und wann eine Ursachenklärung sinnvoll ist
Unter Prokrastination wird ein ständiges Aufschieben von zu erledigenden Aufgaben verstanden. Dabei können einzelne oder mehrere Lebensbereiche betroffen sein (Beruf, Schule, Studium oder private Aktivitäten). Bei gelegentlichem Aufschieben handelt es sich um ein völlig normales psychologisches Phänomen. Bei der Prokrastination nimmt das Aufschieben jedoch ein Ausmaß an, das bei Betroffenen zu Beeinträchtigungen, Leidensdruck oder ernsthaften Konsequenzen in den betroffenen Lebensbereichen (z.B. Nicht-Beenden von Studiengängen, Projekten, Herauszögern von Prüfungen) und auch Symptomen wie Erschöpfung, Ängsten, Schlafstörungen, Grübeln und Selbstzweifeln führen kann. Oft ist Prokrastination mit Ersatzhandlungen verbunden (Aufräumen, Putzen, Social Media, Schlafen). Gehäuft tritt das Phänomen bei Studierenden und freiberuflich Tätigen auf.
Empfehlungen um Prokrastination zu überwinden betreffen häufig Handlungsstrategien: Setzen von zeitlichen Fristen, Tagesziele, Belohnungen, 5-Sekunden-Regel, realistische Pläne entwerfen, Focus auf das Anfangen, 50%-Regel, Reduktion von To Do's. Sie sind hilfreiche Optionen, zeigen manchmal jedoch nicht die gewünschte Wirkung. Dann kann eine Hinwendung zu möglichen Ursachen sinnvoll sein, um eine Veränderung zu ermöglichen. Im Folgenden werden mögliche Ursachen für Prokrastination aus tiefenpsychologischer Sicht aufgeführt.
Prokrastination: Mögliche Ursachen
Bedürfnis nach Anerkennung, perfektionismus
Prokrastination kann auf einen unbewussten Beziehungswunsch nach (übermäßiger) Anerkennung hindeuten.
Wenn frühe Bezugspersonen in der kindlichen Entwicklung wenig echtes Interesse gezeigt haben oder sich nicht die Zeit genommen haben, sich mit dem Kind zu beschäftigen, kann das die Entwicklung eines gesunden Selbstwertgefühls stören. Diese Resonanzlosigkeit wird als Beziehungserfahrung verinnerlicht und kann in der Überzeugung münden, dass das eigene Tun und Sein wenig bedeuten. Der Wunsch, gesehen und geliebt zu werden, kann in diesem Fall einen übermäßig hohen Selbstanspruch bedingen: Was man von sich zeigt, muss erstklassig und herausragend sein (damit man endlich gesehen wird). Dieser Anspruch bewirkt einen selbstüberfordernden Arbeitsstil, bei dem jedes noch so kleine Detail optimiert wird und bei dem ein Verzetteln vorprogrammiert ist. Der überhöhte Anspruch kann bei solchem angestrengten Abmühen schnell kippen. Anstatt der angestrebten Grandiosität wird die Überzeugung bestätigt, dass das Eigene eben doch nichts bedeutet, dass man nur Schlechtes hervorbringt. Überschneidungen bestehen mit dem perfektionistischen Persönlichkeitsstil, der ebenfalls Ausdruck eines Selbstwertkonfliktes ist:
Perfektionismus bedeutet, Fehler ängstlich zu vermeiden. Ursächlich bestehen Selbstzweifel, Angst vor Kritik oder Ablehnung; der Selbstwert wird an Leistungen gekoppelt. Die Befürchtung hinter einem perfektionistischen Persönlichkeitsstil lautet, nicht gut und richtig zu sein. Es geht beim Perfektionismus weniger um die Sache an sich und diese so gut wie eben möglich zu gestalten, sondern um die Frage, ob das, was man von sich selbst zeigt, gut ist. Es findet demnach eine Fokussierung auf die Beziehungsebene - anstatt auf die Sachebene - statt. Dabei kann es auch zu Projektionen der eigenen Strenge sich selbst gegenüber nach außen kommen, beispielsweise wenn Prüfer oder Vorgesetzte als besonders streng wahrgenommen werden. Perfektionismus begünstigt Prokrastination vor allem dadurch, dass eine erforderliche Priorisierung von Aufgaben fehlt: Wer alles perfekt machen möchte, um nicht kritisiert zu werden, verzettelt sich auch in Aufgaben, die nicht relevant sind. Zudem erstickt der perfektionistische Drang, jeden kleinen Aspekt kontrollieren zu wollen und sich selbst immer wieder zu kritisieren, die Fortführung des Begonnenen und kreatives Schaffen allgemein.
Werte- oder Identitätskonflikt
Manchmal kann Prokrastination wichtige Hinweise auf bislang unbewusste Motive geben. Wenn Projekte, Jobs oder Studiengänge begonnen werden, um den Ansprüchen oder Erwartungen der Umwelt zu entsprechen, können sich durchaus berechtigte, gesunde Widerstände zeigen. (Eine unbewusste Botschaft kann lauten: "So will ich nicht mehr weiter, das bin nicht ich"). Möglicherweise fehlt auch das Gefühl dafür, was man eigentlich selber möchte. Identifikationen mit Ansprüchen anderer oder übermäßiges Gefallen-wollen sind uns oft nicht bewusst. In diesen Fällen enthalten die Symptome, die mit Prokrastination einhergehen, wie Müdigkeit oder das Gefühl der inneren Blockade, wertvolle Hinweise. Unbewusste Widerstände können in bewusste (und selbst-bewusste!) verwandelt werden und äußere und verinerlichte Idealvorstellungen kritisch beleuchtet werden. Dazu eignen sich folgende Fragen:
Will ich so weiter gehen? Bin das wirklich ich? Möchte ich das was ich gerade tun soll / will auch selbst tun (oder wollen ausschließlich andere, dass ich das tue)?
Entspricht das Projekt / die Studienwahl den eigenen Werten und Zielen?
Habe ich die Ansprüche der äußeren Welt zu eigenen gemacht? Wie ist äußere die Idealvorstellung vom eigenen Leistungsvermögen und möchte ich sie beibehalten?
Woran möchte ich selbst meinen Lebensweg ausrichten?
strukturelle Schwäche
Wenn innere Spannungszustände - die zu Aufgaben, Projekten, Prüfungsvorbereitungen, Arbeitsabläufen, Studium usw. dazu gehören - nicht ausgehalten werden können, liegt das möglicherweise in einer sogenannten strukturellen Schwäche begründet. Das bedeutet im Falle der verminderten Frustrationstoleranz, dass aus frühen Beziehungserfahrungen heraus Schwierigkeiten in der Emotionsregulation entstanden sind. Bei einer gesunden Entwicklung sind Frustrationen oder Überforderungen nicht so ausgeprägt, dass sie regelmäßig in Wut oder Resignation umschlagen. Es geht darum, Noch-nicht-Zustände auszuhalten. Wer früh stark überfordert oder auch zu wenig gefordert wurde, kann bei kreativen Prozessen, bei Projekten, Arbeitsabläufen oder Vorbereitungen übermäßige Anspannung, Wut oder körperliche Symptome entwickeln, die den Beginn, die Fortführung oder Vollendung von Aufgaben behindern können.
Schuldgefühle, Trennung
Insbesondere wenn sich die Fertigstellung von Aufgaben (z.B. von Projekten, Abschnitten, Studiengängen, Ausbildungen) problematisch gestaltet, kann das auf einen zugrundeliegenden inneren Konflikt hinweisen, der das Loslassen, Verlassen oder eine Trennung betrifft. Es bestehen in diesen Fällen emotionale Abhängigkeiten, die eine Vollendung verhindern. Eine hilfreiche Frage lautet: Welche Konsequenzen hätte die Vollendung - insbesondere emotional und in Beziehungen?
Beispiele:
Wenn Eltern als verletzlich und bedürftig erlebt werden und / oder wenn Eltern mit den eigenen Leistungen übertroffen werden, können unbewusste Schuldgefühle entstehen. Mitunter können solche Schuldgefühle Erfolge gänzlich verhindern.
In einem anderen Fall mag die Vollendung nur mit der Hilfe anderer möglich sein - auch wenn die betroffene Person über die Fähigkeiten verfügt, die Aufgabe alleine zu bewerkstelligen. Ein Abschluss wird dann nur mit Unterstützung möglich, ohne sich ganz zu lösen (unbewusst wird sich selbst gewissermaßen ermöglicht, Kind zu bleiben).
Manchmal besteht eine unbewusste Trennungsangst, zum Beispiel beim Übergang von der Schule in eine Berufsausbildung und mit dem Auszug aus dem Elternhaus und dem damit verbundenen Lösen aus der elterlichen Versorgung.
Möglicherweise ist eine Trauerarbeit nach Trennung oder Verlust eines nahestehenden Menschen ausstehend oder nicht abgeschlossen worden.
Schau' auch in meinen Blog-Artikel zur Begriffsbestimmung von Perfektionismus.
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