Elemente des Wohlbefindens gemäß der positiven Psychologie
Martin E. P. Seligman, Universitätsprofessor an der University of Pennsylvania, ist einer der bedeutendsten Glücksforscher unserer Zeit. Er hat umfangreich zur positiven Psychologie publiziert, die auf Wohlbefinden zielt und betont, dass psychische Gesundheit mehr als die Abwesenheit von psychischen Störungen bedeutet. Die positive Psychologie ergänzt die auf Behandlung von Symptomen und Störungen ausgerichtete psychologisch-psychotherapeutische Wissenschaft um einen Ansatz, wie Menschen aufblühen ("flourish") und sich bestmöglich entwickeln können und fokussiert dabei auf persönliche Stärken und Tugenden. Dabei geht es nicht vorrangig um hedonistisches Glück (sinnlicher Genuss, Vergnügen, Lust), sondern auch um
Elemente eudaimonistischen Glückes (Werte, Authentizität, tugendhaftes Handeln, höhere Ziele verfolgen, Entfaltung eigener Potentiale). Basierend auf zahlreichen Untersuchungen definiert Seligman fünf messbare Faktoren, die Wohlbefinden und Lebenszufriedenheit ausmachen. Die einzelnen Faktoren zeichnet aus, dass sie zum Wohlbefinden beitragen, dass viele Menschen um der Sache selbst willen nach ihnen streben und dass jeder einzelne Faktor sich unabhängig von den anderen erheben und messen lässt. Die ersten drei Faktoren (positive Emotionen, Engagement, Sinn) sind aus der Theorie des authentischen Glücks (authentic happiness theory) abgeleitet, die auf die Herstellung von Glücklichsein und Lebenszufriedenheit fokussiert. Die letzten beiden Faktoren (Zielerreichung, positive Beziehungen) werden in der Theorie des Wohlbefindens gemäß der positiven Psychologie ergänzt.
1 Positive Emotionen
Beispiele für positive Emotionen sind subjektive Variablen des Wohlbefindens wie Freude, Zufriedenheit, Wärme, Heiterkeit, Gelassenheit, Lust, Behaglichkeit. Die positive Psychologie ermuntert dazu, derartige Emotionen zu bewahren und zu vertiefen, beispielsweise angenehme Momente besonders bewusst zu genießen, die Aufmerksamkeit voll darauf auszurichten (Prinzip der Achtsamkeit) oder mit anderen zu teilen. Eine besondere Rolle unter den positiven Emotionen spielt die Dankbarkeit. Sie korreliert positiv mit Glück, stabilisiert Beziehungen und erhöht das Gefühl der Verbundenheit mit anderen. Dankbarkeit wird heute als therapeutische Intervention empfohlen. Sie kann in Form von Dankbarkeitstagebüchern, Imaginationen (bei denen anderen gedankt wird) oder durch häufigeres authentisches Aussprechen des Wortes "Danke" kultiviert werden.
2 Engagement
Als Engagement bezeichnet die positive Psychologie ein Handeln, in dem wir völlig aufgehen und uns selbst und die Umstände um uns herum vergessen. Dieses Flow-Empfinden tritt vor allem ein, wenn individuelle Fähigkeiten in einem Maße beansprucht werden, dass keine Überforderung eintritt und wenn bewusst eigene Stärken eingesetzt werden, um Aufgaben zu bewältigen. Das Empfinden, dass etwas Freude bereitet hat, tritt erst retrospektiv ein - im Gegensatz zu den o.g. positiven Emotionen, die im Hier und Jetzt als beglückend empfunden werden.
„There is one aspect of happiness that’s been well studied, and it’s the notion of flow. Ask yourselves, when for you does time stop? When are you truly home, wanting to be no place else?”
Martin Seligman
3 Sinn
Sinn kann definiert werden als Anbindung an etwas Größeres als das Ego und zugleich als Dienst an diesem Größeren. Meist wird - individuell sehr variabel - aus mehreren Quellen Sinn geschöpft: Spiritualität, Religion, Familie, Freunde, Arbeit, Natur, Gemeinschaft u.a. Sinn kann nicht theoretisch, rein gedanklich, Erfüllung schenken. Er will aktiv gelebt werden, zum Beispiel in der Hinwendung zu anderen.
Im Gegensatz zu positiven Emotionen und Engagement handelt es sich beim Sinn nicht nur um einen subjektiven Zustand. Während eigenes Wirken subjektiv möglicherweise als sinnlos empfunden wird, kann dies nach äußeren Maßstäben gegenteilig beurteilt werden.
4 Zielerreichung
Um ihrer selbst willen verfolgte Leistungen, Erfolg um des Erfolges willen, gewinnen wollen: Das sind Beispiele für das Streben danach Ziele zu erreichen, das bei vielen Menschen zum Wohlbefinden beiträgt. Dabei geht es primär weder um die positiven Emotionen noch Engagement oder Sinn, sondern um den Erfolg an sich. Laut Seligman ist insbesondere Willensstärke entscheidend, um Erfolge tatsächlich zu erreichen (Leistung = Können x Anstrengung). Bei der Ausrichtung auf prosoziale Ziele ist der Effekt gegenüber Zielen, die äußere Lebensumstände betreffen, hinsichtlich des Wohlbefindens größer.
"How can we create a cultural legacy of happiness? Let other people matter".
Christopher Peterson
5 Positive Beziehungen
Prof. Christopher Peterson, einer der Väter der positiven Psychologie, wurde gebeten in wenigen Worten zu beschreiben, worum es in der positive Psychologie ginge. Er antwortete: "Andere Menschen". Angenehme Emotionen, das Empfinden von Sinn, sich an Erfolgen erfreuen: Meist haben diese Aspekte einen Zusammenhang mit anderen Menschen. Soziale Beziehungen haben einen tiefgreifenden Einfluss auf das Wohlbefinden und die psychische Gesundheit. Soziale Isolation ist mit Wohlbefinden nicht vereinbar, sie korreliert stark mit psychischen Erkrankungen wie depressiven Störungen.
Tugendhafte Stärken gemäß der positiven Psychologie
Die positive Psychologie hat den lange als altbacken und bürgerlich belächelten Tugenden ein Comeback beschert. Tugendhaftes Verhalten hebt nachweislich die Lebenszufriedenheit. Seligman und Peterson fassen 24 Charaktereigenschaften zu sechs Tugenden zusammen, die unabhängig vom zeitlichen und kulturellen Kontext in allen Gesellschaften geschätzt wurden. Interventionen der positiven Psychologie setzen explizit bei den persönlichen Stärken an, d.h. diese bewusst einzusetzen, zu kultivieren.
Weisheit und Wissen
Neugier und Interesse an der Welt
Liebe zum Lernen
Urteilsvermögen / Kritisches Denken
Kreativität
Perspektive (Weitsicht)
Menschlichkeit
Freundlichkeit und Großzügigkeit
Bindungsfähigkeit und Liebe
Soziale Intelligenz
Mäßigung
Selbstregulation
Besonnenheit, Vorsicht
Demut, Bescheidenheit
Vergebungsbereitschaft
Mut
Tapferkeit
Ausdauer / Sorgfalt
Integrität / Authentizität / Ehrlichkeit
Elan / Enthusiasmus
Gerechtigkeit
Teamwork, Gemeinschaftssinn
Fairness
Führungsvermögen
Transzendenz
Sinn für das Schöne
Dankbarkeit
Hoffnung, Zuversicht, Optimismus
Spiritualität / Religiosität
Humor
Herausforderungen der positiven Psychologie
Die Ausrichtung der positiven Psychologie auf Ressourcen, Sinn, positive Emotionen und Selbstbestimmung ergänzt und bereichert die früher insgesamt defizitorientierte Psychologie und Psychotherapie. Im Folgenden werden mögliche Kritikpunkte aufgeführt.
Ein zu starkes Fokussieren auf charakterliche Stärken lässt außer acht, dass eine Weiterentwicklung hinsichtlich persönlicher Schwächen im Einzelfall relevant sein kann. Übermäßiger Optimismus mag möglicherweise nicht mit der Realität vereinbar sein, Planbarkeit und Kontrollierbarkeit des Lebens sind begrenzt und Belastungen und Unglücksfälle gehören dazu. Unangenehme Emotionen wie Traurigkeit, Angst, Wut, Schuldgefühle usw. gehören zum universellen emotionalen Spektrum - beim Glück handelt es sich um eine Kontrasterfahrung, die nur möglich ist, wenn auch leidvolle Gefühle wahrgenommen werden können. Aus psychotherapeutischer Sicht ist es sinnvoll, alle Emotionen die aufkommen (auch die unangenehmen), bewusst wahrzunehmen, zuzulassen und ein tieferes Verständnis darüber zu entwickeln.
Insofern besteht die besondere Herausforderung darin, positive und negative Aspekte der menschlichen Existenz zu integrieren.
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